Les Cinglés du Mont Ventoux
Zum Jahresende ist es an der Zeit, auf die vergangenen Monate zurückzuschauen und Pläne für das nächste Jahr zu machen. Wer noch nach Herausforderungen für die neue Saison sucht, dem sei der Mont Ventoux an’s Herz gelegt.
Vorgeschichte
Das Ziel unserer ersten Alpenüberquerung (bunt gemischte Gruppe von RSVlern sowie Freunden aus Konstanz und Bretten) in 2016 war der Mont Ventoux. Ich war in dieser Woche zum ersten Mal in meinem Leben Pässe gefahren und konnte den Hype um diesen Berg nicht ganz verstehen. Am Vorabend der finalen Etappe wurde wild diskutiert, wer wie oft und von welchen Seiten den Giganten der Provence erklimmen würde (die ultimative Challenge: von allen drei Seiten je einmal hochfahren) wann man sich wo treffen würde… – während ich besorgt mein Knie abtastete und nicht sicher war, ob ich am nächsten Tag überhaupt auf’s Rad steigen könnte.
Am folgenden Tag siegte die Vernunft und ich fuhr nach der zweiten Ankunft am Gipfel trotz einer euphorisierenden Abfahrt und der Versuchung, den dritten Anstieg auch noch zu bezwingen, wieder zum Hotel. Eines war dennoch klar: Ich würde im Laufe meines Erasmus-Jahres auf jeden Fall wiederkommen und mich der Herausforderung stellen!
Am 5. Mai wurden drei Freunde von mir in den „Club des Cinglés du Mont-Ventoux“ aufgenommen. Dies ist die offizielle Vereinigung der vom Mont Ventoux „Besessenen“ und wer sich rechtzeitig anmeldet (und bezahlt), erhält nach erfolgreicher Durchführung der Tour eine Medaille. Jeweils einmal von jeder Seite den Mont Ventoux zu erklimmen, stellt dabei die erste Stufe dar (Cinglé) – richtig Bekloppte fahren jede Seite zwei Mal (Bicinglette, Wortspiel à la „ein bisschen doppelt bescheuert“).
Da die Zeit langsam knapp wurde und auch die Transalp näher rückte, sah ich mich gezwungen, endlich Nägel mit Köpfen zu machen und meinen Aufenthalt am Mont Ventoux genauer zu planen. Leider konnte ich zunächst keinen meiner Vereinskollegen von meinem Vorhaben überzeugen, und meine größte Sorge galt nicht den bevorstehenden Höhenmetern, sondern technischer Defekte, die ich alleine nicht zu beheben wüsste. Letztlich war es der Titel „La mariée à bicyclette“ [„Die Braut auf dem Fahrrad“] eines hübschen Zimmers bei Airbnb, der den Ausschlag für meine Entscheidung gab und kurze Zeit später hatte ich auch eine Freundin – Rennrad-Neuling – überzeugt, mich zu begleiten.
Vorbereitungen und Anreise
Fiona und ich sind am Tag vorher angereist, und das Zimmer bei Fabio und Agnès stellte sich als echter Glücksgriff heraus! Den Nachmittag haben wir am Lac du Paty, einem kleinen Gebirgssee, verbracht. Bei einem Spaziergang durch das Dorf Caromb fiel der Blick bereits auf unser Ziel des nächsten Tages: den Gipfel des Mont Ventoux mit seinem Observatorium.
Beim Abendessen unterhielten wir uns mit den Gastgebern über Gott und die Welt und natürlich vor allem das Rad fahren. Fabio, selbst begeisterter Radfahrer, gab uns Tips zur Anfahrt nach Bédoin und machte mit uns einen letzten Rad-Check.
Mont Ventoux
Der Tag begann für uns recht früh um 5.30 Uhr morgens mit dem Frühstück. Um 6.45 waren wir bereit für unser Abenteuer: 9 km Einrollen und dann von Bédoin, Malaucène und Sault aus jeweils einmal hoch zum Gipfel (und runter zum nächsten Ausgangspunkt) sowie am Ende zurück nach Caromb rollen: 155 km, 4500 hm. Fiona, die drei Monate zuvor zum ersten Mal auf einem Rennrad gesessen hatte, wollte mich so lange wie möglich begleiten. Sie konnte der Versuchung, den Berg von all seinen drei Seiten zu bezwingen, nicht widerstehen, wusste aber auch nicht genau, was da auf sie zukommen würde.
Veloviewer hat eine andere Farbcodierung als Quäldich und zudem Auf- und Abfahrt übereinander gelegt. Die Steigungen sind besser bei den einzelnen Anstiegen zu analysieren.
1. Anstieg von Bédoin: In der Ruhe liegt die Kraft
Der Anstieg von Bédoin ist der Klassiker unter den Auffahrten zum Gipfel und wird von vielen Radfahrern als schwierigster Anstieg wahrgenommen. Es gibt kaum Zeit zum Verschnaufen, sondern geht mit durchschnittlich 7,5 % und maximal 12,5 % auf einer Strecke von 21,5 km bergauf. Dabei führt die kleine Straße erst mit sanfter Steigung durch die Felder, bevor sie im Wald verschwindet. So sieht man bis zum Chalet Reynard bei Kilometer 15 nichts vom Observatorium, sondern ist mit sich und der Anstrengung alleine. Dafür gibt es allerhand Straßenmalereien von vergangenen Wettkämpfen wie der Tour de France zu bewundern. Außerdem findet sich nach jedem Kilometer ein Kilometerstein, der die verbleibende Strecke bis zum Gipfel sowie die Steigung auf den nächsten 1000 Metern anzeigt.
Beim ersten Anstieg stand für mich im Vordergrund, mich langsam am Berg warm zu fahren, meinen Rhythmus zu finden und mich auf keinen Fall am Anfang zu verheizen. Das war leichter gesagt als getan, denn Fiona sprühte nur so vor Energie und fuhr immer einen Tick schneller vorweg. Als wäre das noch nicht genug, machte sie immer wieder kehrt und holte mich ab. Meine Bemühungen, sie davon abzubringen und sie zu überzeugen, dass sie diese Energie später noch brauchen würde, fruchteten nicht. Also ging das Spielchen weiter bis zum Chalet Reynard.
Am Chalet Reynard laufen die Straßen von Bédoin und Sault zusammen. Auf den verbleibenden 6 km mit 480 hm hat man das Ziel immer im Blick (vorausgesetzt, der Blick bleibt einem nicht durch Nebel verwehrt, was im vergangenen Sommer der Fall gewesen war), kommt ihm aber nur sehr langsam näher. Zudem bekommt man hier zu spüren, wofür der Mont Ventoux bekannt ist: Wind. Kaum geschützt am Hang entlangradelnd, sind die Böen nicht zu unterschätzen! Bergauf ist das die eine, bergab eine andere Sache…
Wir hatten Glück: Blauer Himmel, grandiose Aussicht und bald die erste Etappe geschafft. Langsam wurde es etwas frischer, doch der Wind war verhältnismäßig zahm.
Oben angekommen, war es wieder da: Dieses Kribbeln im Bauch, Erinnerungen an den Alpen-Urlaub und mein damals bevorstehendes Erasmus-Jahr, nun mittendrin im Geschehen – großartig! Bis auf ein paar Belgier oder Holländer, die für die Challenge ihren eigenen Support-Bus dabei hatten, war noch nicht viel los am Gipfel. Foto machen, Riegel essen, Windjacke anziehen und Abfahrt nach Malaucène! (Diese rasante Abfahrt auf perfekt geteerter Straße ist Genuss pur!)
2. Anstieg von Malaucène: Rhythmus gefunden!
Wenn man den nackten Zahlen vertraut, scheint ein ganz ähnlicher Anstieg wie beim ersten Mal vor einem zu liegen: Knapp 1600 Höhenmeter sind auf einer Strecke von 21,2 km zu bewältigen, was einer durchschnittlichen Steigung von 7,5 % entspricht. Wenn da nicht die maximale Steigung von 14 % wäre! Und die stellt keinen Einzelfall dar. Vielmehr handelt es sich um einen ziemlich unregelmäßigen Anstieg, der immer wieder mit kurzen oder längeren Rampen gespickt ist. Auch die Vegetation ist anders: Es ist deutlich kahler, man ist dem teils schroffen Wind ausgesetzt und es kann auch ganz schön warm werden. Nach gut 15 Kilometern zweigt eine Straße ab zur Skistation Mont Serein und es folgen die letzten 6 km und knapp 500 Höhenmeter bis zum Gipfel.
Gestärkt mit einer Cola in Malaucène bin ich bei dieser Auffahrt bei meiner Betriebstemperatur angekommen und habe einen guten Rhythmus gefunden. Mit Musik im Ohr und einem Auge auf der Herzfrequenz schien ich den Berg hochzufliegen. Naja, das ist vielleicht etwas übertrieben, aber ich kam gut voran, überholte einige andere Radfahrer und hatte Freude ohne Ende trotz oder gerade wegen der Anstrengung.
Fiona hingegen kam langsam an ihre Grenzen, war den ersten Anstieg wohl doch etwas zu schnell angegangen und hatte nach französischer Manier bisher noch nichts gegessen. Also war ich diejenige, die nun immer wieder auf sie wartete und sie ermutigte, dass es bald (naja…) geschafft sei.
Zur Mittagszeit herrschte reges Treiben auf dem Gipfel: Radfahrer, Motorradfahrer, Wanderer, Leute mit Auto oder gar Wohnwagen wollten Bilder von der Aussicht und von sich mit dem Passschild machen oder im Souvenir-Laden Getränke und Andenken kaufen.
Wir machten schnell ein Bild als Zeichen unserer zweiten Ankuft und fuhren ein paar Hundert Meter weiter Richtung Chalet Reynard, um beim Restaurant Vendran eine kleine Mittagspause in der Sonne einzulegen. Fiona, vollkommen k.o. aber glücklich, hatte indessen entschieden, zurück nach Caromb zu fahren und dort auf mich zu warten.
Also machte ich mich alleine auf die Abfahrt nach Sault. Beflügelt von den ersten beiden erfolgreichen Anstiegen und der bevorstehenden „Kleinigkeit“ (bei der Auffahrt von Sault sind die geringste Steigung und deutlich weniger Höhenmeter zu überwinden) zur Vollendung der Herausforderung machte ich bereits neue Pläne: Beim nächsten Mal könnte man auch vier oder fünf Mal den Gipfel erklimmen, die 5000-Meter-Marke knacken, die Umgebung weiter erkunden…. Viele Radfahrer kamen mir entgegen, die ich anfeuerte. Darunter ein Pärchen mit Trikots von der Ardéchoise, einer riesigen Radveranstaltung, zu der ich ebenfalls in wenigen Wochen fahren würde.
Gut gelaunt kam ich in Sault an und fuhr zum Hauptplatz, wo wir auch im vergangenen Sommer unseren Urlaub hatten ausklingen lassen. Ich schaute den Leuten beim Boule-Spielen zu, während ich einen weiteren Snack zu mir nahm und mich mit einem Franzosen über meine Tour unterhielt. Als er mein Vorhaben verstanden hatte, hielt er mich vermutlich für komplett bescheuert.
3. Anstieg von Sault: Einen Engel getroffen
Ich setzte also meine Fahrt fort, um den letzten Anstieg in Angriff zu nehmen. Die letzten 1200 Höhenmeter, verteilt auf 25,5 km lagen vor mir. Bei der Auffahrt von Sault sind vor allem die ersten 19 km mit einer durchschnittlichen Steigung von 3,8 % sehr gnädig, bevor es ab dem Chalet Reynard noch mal etwas steiler wird. Bei dem gemeinsamen Endstück mit der Auffahrt von Bédoin hat man das Ziel dann aber fest im Blick und ist scheinbar nur noch einen Katzensprung entfernt.
Am Ortsausgang sah ich unweit vor mir eine Gruppe von Rennradfahrern – mit ein paar guten Zugpferden vor allem den flacheren Teil des Anstiegs hinter mich zu bringen und vielleicht sogar ein paar nette Gesprächspartner zu treffen, schien mir eine gute Aussicht. Also bemühte ich mich, sie möglichst mühelos einzuholen – ich wollte mich gerne möglichst bald hinten dranhängen, allerdings ohne bei dem kleinen Spurt den Puls zu sehr in die Höhe zu treiben und viel Energie zu verlieren. Nach einigen Minuten hatte mein Vorhaben geklappt und ich hatte die Gruppe eingeholt. Leider erinnere ich mich nicht mehr genau, was dann geschah. Ich glaube, die Dynamik war blöd, sie fuhren irgendwo ab, hielten an oder was auch immer. Jedenfalls bemerkte ich, dass ich irgendwie schon ziemlich lange eher bergab als bergauf gefahren war (am Ende der Abfahrt nach Sault gab es einen kurzen Gegenanstieg, von daher war es schon richtig, zumindest ein Stückchen bergab zu fahren). Außerdem war ich mittlerweile durch einen anderen „Ort“ gekommen bzw. die Straße zwischenzeitlich von ein paar Häusern gesäumt gewesen. Wie ich dann feststellen musste, war ich mittlerweile in Aurel, einem Nachbardorf von Sault, und befand mich derzeit nicht auf dem Weg zum Gipfel, sondern auf einer kleinen Landstraße durch die Prärie. Also machte ich kehrt und fuhr den Weg wieder zurück. An der Ortsgrenze von Sault stellte ich fest, dass ich bereits hier die falsche Straße genommen hatte: Getäuscht von der kleinen Rampe bergab in Richtung Mont Ventoux hatte ich mich mit Blick auf die anderen Radfahrer wohl für die flachere Straße entschieden… 15 km und 150 Höhenmeter zusätzlich, who cares?!
Ich informierte Fiona, die mittlerweile wieder gut in Caromb angekommen war, dass es doch noch etwas länger dauern würde. Doch auf einen Schlag war sie da: die Müdigkeit, der Hunger, der Durst und die Wärme war zur Mittagszeit auch nicht ohne. Aber ich wollte mich nicht unterkriegen lassen, nicht so kurz vor dem Ziel und außerdem hatte ich ja auch gar keine Wahl.
Also alles auf Anfang! Nach kurzer Zeit überholte ich drei Rennradfahrer, bevor dann allerdings die Straße durch eine Herde Schafe blockiert war.
Ich setzte mich wieder in Bewegung, versuchte meinen Hungerast auszugleichen und nicht weiter über das Missgeschick nachzudenken. Zwei der drei Männer holten mich bald wieder ein und ich konnte auch nicht mit ihnen mithalten. Meine Sorge galt nun meiner Trinkflasche, die nach dem Umweg schon deutlich über die Hälfte geleert und meinem Durst, der immer noch nicht gestillt war. Leider gab es weit und breit keinen Brunnen. Ich versuchte, Autos und Wohnmobile, die mir entgegenkamen, anzuhalten, um sie nach Wasser zu fragen. Aber entweder ignorierten sie meine Aufforderungen oder verstanden sie einfach nicht. Ich merkte, dass es langsam schwierig wurde mit der Motivation. Wenn ich in dem Tempo weiterfahren würde, würde es ewig dauern, bis ich oben ankäme. Wenn ich denn oben ankäme, denn eigentlich war ich nur noch k.o. Die beiden mit den Ardéchoise-Trikots kamen mir nun entgegen. Müde lächelte ich zurück, als sie mich grüßten. Später hörte ich sie sagen, „regarde, la femme, toujours avec un petit sourire, même si c’est dur“ („schau, die Frau immer mit einem Lächeln im Gesicht, obwohl es hart ist“).
Irgendwann kam ich an ein kleines Steinhäuschen, in dem es offensichtlich einen Brunnen gegeben hatte – der war leider außer Betrieb. Nebendran war das Gatter von einem Bauernhof. Auch wenn ich nichts davon halte, die Anwohner zu belästigen, wusste ich mir nicht anders zu helfen, als den Mann, den ich auf dem Hof sah, zu rufen und um Wasser zu bitten. Er gab mir meine volle Trinkflasche und ich machte mich wieder auf den Weg.
Kurze Zeit später holte ich den dritten Radfahrer des Trios ein, der während der Auffüllaktion an mir vorbeigefahren war. Wie sich herausstellte, kam er aus Holland, sprach aber auch Deutsch und war mit seinen beiden Freunden für ein paar Tage in der Gegend. Die Ankunft am Gipfel stellte das Ziel ihrer ersten Tour dar. Wir unterhielten uns über Gott und die Welt und waren uns einig: Wir hatten (mit dem jeweils anderen) einen Engel getroffen! Dank der guten Gesellschaft verging der restliche Weg bis zum Chalet Reynard wie im Flug. Das letzte Stück bis zum Ziel war dafür ziemlich zäh und meine Beine fühlten sich an wie Pudding. Marcel ließ es sich nicht nehmen, ständig bei mir zu bleiben, mich zu motivieren und die letzten Kilometer runterzuzählen.
Irgendwann kamen wir oben an. Unglaublich, ich hatte es tatsächlich noch geschafft!
Er stellte mich seinen Freunden vor, erzählte von meiner Tour und wir genossen die Ankunft bei einer Cola in der Sonne. Nach dem obligatorischen Foto trennten sich unsere Wege dann leider auch schon wieder. Mit größter Vorsicht fuhr ich über Bédoin zurück nach Caromb und wurde schon von Fiona und Agnès erwartet.
Ein paar Worte zum Schluss
Die Magie dieses Berges kann keine Einbildung sein, aber ich glaube, man kann sie erst nachempfinden, wenn man selbst dort war (und vielleicht auch eine Geschichte damit verbindet). Es sind die besonderen Tage, an denen ich das Trikot vom Mont Ventoux anziehe und mit Stolz trage.
Im Nachhinein stellte ich fest, dass ich zum Zeitpunkt des Wasser Auffüllens gerade mal 8 km zurückgelegt hatte – alleine wäre es also tatsächlich noch eine sehr lange und zähe Angelegenheit geworden.
Ohne Werbung machen zu wollen, kann ich die Unterkunft bei Fabio und Agnès nur empfehlen! Ich war noch zwei weitere Male dort und habe mich sehr wohl gefühlt.
Lotte Märtner