Paris-Brest-Paris 2019 von Axel Werner
Prolog
Langsam aber sicher bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Pavel hat schon einen tollen PBP – Bericht im Umfang eines Dostojewski – Romans geschrieben, und ich habe noch nicht mal angefangen.
Immerhin habe ich eine Ausrede: Schwere mentale Erschöpfung nach erfolgreichem Erreichen des Saisonziels. Stimmt aber eigentlich nicht ganz, stundenlang erzählen kann ich ja drüber, meine Begleiter müssen bei jeder RSV – Ausfahrt darunter leiden. Wenn man vier Wochen später immer noch ständig drüber erzählt, muss es aber doch ein eindrückliches Erlebnis gewesen sein.
Motivation
1220 km mit 11.800 Hm am Stück, warum tut man sich das an? Es gibt durchaus pragmatische Antworten: wenn man fürs sprinten kein Talent hat und für die Berge zu schwer ist, bietet sich die Langstrecke an, um auch mal einen besonderen Erfolg zu haben. Nicht zu unterschätzen ist der Suchtfaktor: Im Hochgefühl nach jeder Langstrecke will ich eigentlich immer schon wenige Minuten nach dem Zieleinlauf wissen, ob es nicht auch noch 100 km weiter gegangen wäre. Mit der Zeit steigt das Selbstvertrauen: mein erster Schwetzinger Radmarathon vor zehn Jahren war einfach nur schrecklich anstrengend, inzwischen ist ein Wochenendausflug nach München Routine. Wenn man sich für Langstrecken interessiert, kommt man an Paris – Brest – Paris eigentlich nicht vorbei. Die drei Buchstaben „PBP“ sind ein Mythos und entwickeln eine unglaubliche Anziehungskraft. Ältestes noch ausgetragenes Radrennen der Welt, Vorbild für die erst viel später gestartete Tour de France, „Olympia der Randonneure“.
Als unabhängiger Beobachter der Langstreckenszene hätte man aber vermutlich einen weitaus profaneren Eindruck: 95 % der Starter sowohl bei Brevets als auch bei PBP sind Männer zwischen 40 und 60, die hier eine mobile Gruppentherapiesitzung gegen die midlife crisis absolvieren. Ich bin übrigens 48.
Qualifikation
Wer einen garantierten Startplatz haben möchte, muss allerspätestens ein Jahr vorher mit der Qualifikation beginnen, je nach Langstrecken – Erfahrung gegebenenfalls auch zwei Jahre früher. PBP findet alle vier Jahre statt, im Kalenderjahr der Veranstaltung muss man eine Brevetserie mit 200, 300, 400, 600 km erfolgreich innerhalb des Zeitlimits absolviert haben. In Deutschland organisieren dies die Audax Randonneurs Allemagne (ARA) mit 13 Regionalverbänden. Im PBP – Jahr bietet jeder von diesen jede Strecke einmal an. Aufgrund des Abbruchrisikos z.B. bei Defekten, Knieproblemen oder Sauwetter sollte man sicherheitshalber ein oder zwei Brevets mehr einplanen, man kann kürzere immer durch längere ersetzen. Die Brevets starten meist im März, bis 20. Juni musst die Serie abgeschlossen sein. Wenn man wie ich fast jedes dritte Wochenende arbeitet, bleibt da nicht mehr viel Zeit für das reguläre RSV – Training.
Die Anmeldung bei PBP beginnt im Januar und ist gestaffelt: zuerst dürfen sich diejenigen anmelden, die im Vorjahr mindestens ein 1000er Brevet gefahren sind, zwei Wochen später die 600er und so weiter.
Bisher hat ein 600er immer gereicht, um einen Startplatz zu ergattern. Ich bin 2018 als mein allererstes Brevet gleich einen 600er gefahren, extra im Emsland – das flachste was es gibt. 26 Stunden am Stück ohne Schlafpause war eigentlich gar nicht so anstrengend. Allerdings habe ich ein paar Tage später permanente Knieschmerzen bekommen und musste sieben Monate komplett mit dem Radfahren pausieren. Eigentlich hatte ich PBP schon abgeschrieben, da die Knieschmerzen sich trotz der Pause sich nicht wirklich gebessert haben. Anfang Februar diesen Jahres bin ich dann aber doch wieder aufs Rennrad gestiegen. Wenn das Knie sowieso weh tut, kann ich genauso gut auch Rennrad fahren. Die Brevetserie war dann eine Katastrophe: beim 200er und beim 600er stundenlanger Wolkenbruch, der 300er und der 400er bei Dauerfrost und teilweise Neuschnee im April. Andererseits tankt man hierdurch Selbstvertrauen für PBP, ich war trotz Trainingsrückstand immer einer der schnellsten und meilenweit vom Zeitlimit entfernt. Viel schlimmer kann es im Sommer in Frankreich ja auch kaum kommen.
Rambouillet
Aufgrund des zunehmenden Autoverkehrs hat der Start von PBP schon einige Male den Standort gewechselt, dieses Jahr beginnt es erstmalig in Rambouillet , einem kleinen Städtchen am westlichen Stadtrand von Paris. Da es im TGV keinen Fahrradtransport gibt, ist eine Anreise nur mit Auto oder Flugzeug möglich. Einige reisen aus Deutschland auch per Fahrrad an. Das kleine Städtchen ist mit 6500 Teilnehmern völlig überfüllt, der letzte Kilometer vor dem Ortsschild ist dicht zugeparkt mit Wohnmobilen. Babylonisches Sprachgewirr. Immer wieder Selbstdarsteller vorwiegend aus Asien, welche mit Fatbikes oder extravaganten Kostümen auf die Strecke gehen wollen. Die Anmeldung ist im großen Schlosspark, der sich im strömenden Dauerregen allmählich in Matsch auflöst. Woodstockfeeling. Das Treffen der deutschen Starter am Samstag fällt im Dauerregen kurz aus, schnelle Vorstellung der Organisatoren, dann saust jeder zurück in Hotel oder Wohnwagen.
Am Sonntag habe ich viel Zeit und kann den ersten Startgruppen ab 14:00 Uhr zusehen. Ich bin erst in der vorletzten Startgruppe am Montagmorgen um 05:15 Uhr. Die Startzeit erkennt man am Buchstaben der Startnummer. Der ganze Schlosspark wimmelt nur so von Radfahrern sowie ihren anfeuernden Freunden und Verwandten. Jetzt scheint auch endlich die Sonne. Ich ärgere mich, dass ich noch fast einen weiteren Tag bis zum Start warten muss. Hatte es mir aber selbst so ausgesucht. Früh morgens startet man in den Tag hinein und hat effektiv eine Nacht weniger zu fahren.
Paris – Brest
Montag 4:00 Uhr klingelt der Wecker, 4:30 Uhr sitze ich im Auto, 5:00 Uhr bin ich in Rambouillet. Parkplatz 2 km vom Start weg, alles voll. Ich schaffe es zu 5:14 Uhr in den Startblock, 5:15 Uhr geht’s los. Direkt vor dem Startschuss knallt es schon einmal, im Stand hat jemand neben mir einen Platten. Theoretisch hat er 15 Minuten Zeit für die Reparatur, dann sollte er die letzte Startgruppe noch erwischen. Es ist saukalt und stockdunkel. Gestern Abend hat mein Handy noch minimal 12 °C prognostiziert, jetzt sind es 5 °C. zum Glück habe ich keine Zeit darüber nachzudenken. Es geht mit 35 km/h los, wildes Gedränge, ständig wechselnde Gruppen. Auf den ersten 10 km haben wir eine Polizeieskorte, ich klemme mich einfach direkt hinter das Auto, um mich aus der Hektik rauszuhalten. Normale Menschen schlafen um diese Zeit, hier fährt man durch ein Spalier von Leuten, die einen anfeuern. Nach 10 km holen wir schon die letzten Fahrer der 15 Minuten vor uns gestarteten Gruppe ein, wir pflügen von hinten durch ein Meer an roten Rücklichtern. Nach 1 Stunde wird es hell und der Gegenwind frischt auf. Trotzdem wird zügig gefahren, erst nach 200 km sinkt meine Brutto-Durchschnittsgeschwindigkeit inkl. Pausen erstmals unter 30 kmh.
Etwa zu diesem Zeitpunkt treffen wir auf die ersten Zombies: 12 Stunden vor uns gestartet, liegen links und rechts immer mehr völlig ausgepumpte Fahrer am Straßenrand, einzelne torkeln auch noch mit 10 kmh in Schlangenlinien auf der Straße herum. Fast alles Asiaten. Wie wollen die jemals bis Brest kommen, geschweige denn wieder zurück?
Im Gegenwind wird aus unserer Gruppe allmählich eine Schlange, die hektischen Fahrer vom Anfang sind alle irgendwo weit hinter mir. Leider ist kaum noch jemand vor mir, ständig bin ich im Wind.
Im Gegensatz zu einem normalen Brevet gibt es bei PBP Verpflegungsstationen. Die sonst üblichen Tankstellen wären bei 6500 Fahrern vermutlich nach wenigen Minuten leergefuttert. Ich habe 4 kg Riegel und Gel dabei, dazu 1200 g ISO – Pulver. Entsprechend habe ich die Verpflegungsstation in Montagne-au-Perche nach 117 km ausgelassen, die lange Schlange hinter mir bin ich erst mal los. Ich treffe auf eine Gruppe aus zehn Österreichern, wir wechseln uns in der Führung ab, bei strahlendem Sonnenschein stört der Gegenwind kaum.
Die nächsten 99 km bis zur ersten Kontrolle in Villaines-la-Juhel vergehen wie im Flug. Leider wollen die Österreicher hier eine längere Pause machen und ich habe gerade erst Riegel gefuttert. Also nur kurz Stempel holen und allein weiter. Dies war sicherlich eine meiner schlechteren Ideen. Der Wind frischt immer weiter auf. Es gibt niemanden, der annähernd mein Tempo fährt. Andererseits kleben alle, die ich überhole, danach in meinem Windschatten. Die Schlange wird immer länger. In der Ebene sehe ich, dass ich über 100 Fahrer im Schlepptau habe. Ich gehe raus, um den nächsten in den Wind zu lassen, da wird die ganze Gruppe langsamer. Ich werde noch langsamer, die anderen auch. Ich steige ab und alle machen eine Pause. Elende Lutscher! Am nächsten Berg trete ich an und bin wieder allein.
Kurz vor der nächsten Kontrolle Fougeres nach ca. 310 km hole ich eine Gruppe aus mehreren Deutschen und Schweizern ein. Und erkenne Marcus, mit dem ich den gesamten 400er Qualifikationsbrevet zusammen gefahren bin. Er hat viel mehr Brevet – Erfahrung als ich und ist auf einer 3×400 km Taktik. Er hat sich nach 400 km Fahrstrecke ein Hotel gemietet, wo er auf Hinfahrt und Rückfahrt übernachten will. Sogar Wechselsachen hat er ins Hotel vorausgeschickt. Auch seine Mitfahrer sind schon zum dritten Mal bei PBP dabei und sämtlich starke Fahrer. Eigentlich wollte ich in Fogueres eine größere Pause machen und ordentlich essen, so eine Gruppe lasse ich mir aber nicht entgehen. Nach Blitzpause mit Stempel und Toilettengang fahren wir zu viert weiter, neben Markus noch Michael und Gerhard aus Bayern. Am Beginn der Etappe holen wir noch Manuel Jekel ein, den TOUR-Redakteur. Er hat 2015 den Bericht über PBP geschrieben, der mich endgültig verführt hat, dieses Rennen in Angriff zu nehmen.
Die kurze Etappe bis Tinteniac über 55 km absolvieren wir wie ein Mannschaftszeitfahren. Ich habe bisher an keiner Kontrolle etwas gegessen, hoffentlich geht das trotz aller Riegel und Gels gut.
Tinteniac wird dann die erste größere Pause von 20 Minuten, ich kaufe Bananen und esse ein langes Baguette mit Käse. Hier ist Party-Stimmung, Franzosen führen Volkstänze auf, ein Moderator erzählt mit überschlagender Stimme irgendetwas auf Französisch, viele Fahrer machen hier am späten Nachmittag eine lange Rast.
Überhaupt Volksfestcharakter: die Straßen sind geschmückt wie bei der Tour der France, in den entlegensten Örtchen stehen Leute am Straßenrand und feuern uns an. Kleine Kinder strecken Kekse und Bonbons in die Luft und freuen sich begeistert, wenn ein Fahrer ihnen während der Fahrt etwas abnimmt. Immer wieder klatsche ich bei Drei- bis Siebenjährigen während der Fahrt die Hand ab, ich glaube die Kinder zählen im Wettbewerb, wer die meisten Fahrer abgeklatscht hat. Viele Anwohner haben am Straßenrand Tische aufgebaut, wo sie Getränke ausschenken und Süßigkeiten verteilen. Noch ist es hell, ich fühle mich wie ein Superstar und strotze vor Kraft.
Markus ist inzwischen im Hotel, wir sind noch zu viert. Die nächste Kontrolle in Loudeac erreichen wir bei Einbruch der Dunkelheit kurz nach Sonnenuntergang. Da alles voll ist, holen wir uns nur kurz ein Stempel und stürmen eine Pizzeria. Endlich essen. Eine Pizza, dazu Pommes und ein Burger.
Dann geht es in die Nacht. Zum Glück sehr kleine Straße, zudem sind Hin – und Rückweg hier getrennt, um nächtliche Zusammenstöße zu vermeiden. Nachdem es vor ein paar Jahren zwei tödliche Unfälle gegeben hat, ist die Streck inzwischen mit reflektierenden Pfeilen ausgeschildert. Trotzdem ist die Orientierung nicht einfach: Alle Fahrer sehen gleich aus mit Leuchtweste und rotem Rücklicht, es ist höllisch schwer, in der langen Fahrerkette die eigenen Mitfahrer zu identifizieren. Ich weiß selbst nicht warum, aber nach dem Essen fühle ich mich topfit und fahre freiwillig permanent vorn. Die anderen sind dankbar und wir halten uns gegenseitig durch Gespräche wach. Es läuft hervorragend, ich bin nicht müde. Gegen Mitternacht Geheimkontrolle in Saint Nicolas. Die ist so geheim, dass sie sogar eingezeichnet ist. Wir sind zwar erst 40 km gefahren, trotzdem gibt es jetzt einen Teller Spaghetti Bolognese, einen Teller Kartoffelbrei und irgend so ein warmes Gebäck. Gerhard fängt langsam an zu schwächeln, aber es sind nur 40 km bis zur nächsten Kontrolle im Carhaix.
In Carhaix, gegen 2:00 Uhr haben alle einen physiologischen Tiefpunkt. Nur bei mir spielen die Endorphine verrückt, ich bin fit wie ein Turnschuh. Wie lange wird das wohl gut gehen? Gerhard beschließt 3 Stunden zu schlafen und verlässt uns.
Michael, Manuel und ich fahren weiter. Wie gehabt fahre ich locker voraus im Wind, der sich nachts aber deutlich beruhigt hat. 50 km vor Brest geht es einen knapp 400 m hohen Hügel mit 4 % Steigung hinauf, nicht der Rede wert. In der Abfahrt wird es aber richtig kalt, wieder nur 5°C. Manuel friert wie ein Schneider, er hat mehrfach Blackouts, berichtet von verschwommenem Sehen und fängt an zu torkeln. Zum Glück ist es nicht mehr weit bis Brest, wo ihn seine Frau erwartet. Kurz vor Brest donnern wir mit Tempo 30 auf einer langen Brücke über einen Ausläufer des Atlantik, es ist aber stockdunkel, Foto fällt aus. Kurz vor 6:00 Uhr in Brest sind wir froh, dass wir Manuel noch heil abgeliefert haben. 24,5 Stunden für die ersten 610 km bei Gegenwind und fast 6000 Höhenmeter ist viel schneller, als ich jemals zuvor auf 600 km gefahren bin.
Brest – Paris
Eben gerade war ich noch topfit. Als Michael vorschlägt, 10 Minuten Pause zu machen, bin ich aber Sekunden später eingeschlafen, hingestreckt auf drei Stühlen. Als der Wecker klingelt, weiß ich nicht genau wo ich bin, zum Glück gibt es Michael. Langsam dämmert es mir, dass noch weitere 610 km auf mich warten.
Wir starten den Rückweg Richtung Osten, dem Morgenrot entgegen, das motiviert. Leider hat der Wind gedreht und kommt wieder von vorn, das motiviert etwas weniger. Michael bedankt sich ausführlich, dass er die ganze Zeit bei mir im Windschatten fahren darf, während mir irgendwie langsam mulmig wird. Ungefähr 50 km hinter Brest geht es eine steile Wand hoch, ich komme völlig außer Puste und kippe fast vom Rad. Mein Garmin spinnt, der zeigt nur 2 %. Auf dem Navi von Michael ist es aber auch nicht steiler. Der gerade mal 384 m hohe Hügel Roc‘h Trevezel ist die höchste Erhebung von PBP. Auf der Hinfahrt vor 4 h habe ich ihn kaum wahrgenommen. Nach insgesamt 28 Stunden Fahrt und 660 km fühlt er sich jetzt an wie das Stilfser Joch.
Oben auf der Kuppe haben sich mehrere Franzosen mit Wohnwagen niedergelassen. Wir halten bei einer Familie, die uns erzählt, dass sie ein paar Kilometer entfernt wohnen. Für drei Tage sind sie hier hochgezogen, um die abgekämpften Fahrer mit Getränken, Kuchen, frischen Crêpes und natürlich auch eigenem Wein zu versorgen. Der Wein ist leider schon alle, der Großvater sei gerade unterwegs und holt neuen. Interessant was die anderen Fahrer hier alles so zu sich nehmen. Ein Schluck Wein und ich könnte mich direkt am Straßenrand beerdigen lassen. Der kurze Stopp bei diesen unheimlich gastfreundlichen Franzosen bessert die Stimmung genauso wie die Aussicht, dass es jetzt erst mal abwärts geht.
Jetzt führe ich nur noch bergab, bergauf geht meistens Michael nach vorn. Wir holen einen französischen Radfahrer ein, welcher ein PBP – Trikot von 2015 trägt. Bergab sind wir schneller, bergauf er. Es geht immer hin und her. Nach einiger Zeit stellen wir fest, dass er gar keine Startnummer hat. Er ist Bretone und beherrscht als einzige Fremdsprache französisch. Irgendwie können wir uns doch verständigen. Dieses Jahr kann er nicht bei PBP starten, da er keine Zeit hat. Er fährt heute nur eine kurze Runde über 300 km und hat extra das Trikot von 2015 angezogen, damit er andere Fahrer unbemerkt unterstützen kann. Offiziell ist Hilfe von außen verboten, so fällt er nicht auf. Wir nehmen seine Hilfe dankend an und lassen uns über 30 km bis Carhaix-Ploguer schleppen.
Insbesondere bei mir sinken jetzt aber die Kraftreserven dramatisch. Ich weiß nicht genau, ob ich einen Hungerast habe oder ob der Schlafmangel zuschlägt. Immerhin habe ich schon 700 km geschafft. Eigentlich war mein Plan, bis Brest durchzufahren und dann zu schauen, was noch geht. Jetzt geht eigentlich nichts mehr. Im Internet sehe ich, dass ich Pavel irgendwo im Dunkeln schon lange vor Brest überholt haben muss. Ich bin irre schnell unterwegs und irgendwie packt mich jetzt der Ehrgeiz. Zusammen mit Michael müsste ich jetzt einer der beiden schnellsten von den morgens gestarteten Fahrern sein. Startnummern aus den mit uns morgens gestarteten 84h-Gruppen habe ich schon lange keine mehr gesehen, selbst die 90h-Fahrer mit Start am späten Nachmittag kommen uns jetzt vorwiegend entgegen. Die Fahrer, die wir überholen, sind inzwischen längst vorwiegend 80h-Fahrer, die am frühen Nachmittag mehr als 12 Stunden vor uns gestartet sind.
Die nächsten 200 km sind für mich ein auf und ab, ab und an bin ich fit und kann auch führen, weit über 90 % bin ich aber heilfroh, dass Michael mir Windschatten gibt. Trotz aller Schwächen sind wir immer noch konsequent auf der Überholspur. Inzwischen sind die Überholten meist so schwach, dass sie sich nicht mehr an uns anhängen können. An jeder Raststätte wird gefuttert was das Zeug hält, dann gleich weiter.
Während bei mir die Form hoch und runter schwankt, wird Michael gefühlt immer stärker. Am späten Nachmittag holen wir ein paar englische Fahrer ein, die 14 Stunden vor uns gestartet sind und in der letzten Nacht 8 Stunden geschlafen haben. Sie machen einen fitten Eindruck. Jetzt können wir uns in der Führung abwechseln und fröhlich plaudernd geht es gut voran. Mit Michael diskutiere ich über unsere weitere Strategie: Tinteniac werden wir gegen 19:00 Uhr erreichen, von dort sind es noch 360 km. Ich traue mir maximal noch die 55 km bis zur nächsten Kontrolle zu. Er will aber unbedingt noch eine Kontrolle weiter nach Villaines bis zur Schlafpause fahren, um am nächsten Morgen nur noch 200 km vor sich zu haben. Michael ist die Strecke schon zweimal gefahren und hat sicherlich recht. Weitere 150 km in diesem Tempo traue ich mir aber nicht mehr zu. In Tinteniac bin ich nach 860 km und 39 Stunden Fahrzeit inzwischen so platt, dass ich ihn davonfahren lassen muß. Wir bedanken uns gegenseitig fürs Ziehen und wünschen einander viel Glück, nach 20 Minuten Stop rollt er weiter.
Ich bin so kaputt, dass ich erst nach 30 Minuten bemerke, dass ich schon eine Weile ziemlich ziellos und sinnlos an der Raststätte umher gewankt bin. Leider gibt es hier zwar viel Volksfest und Tanz, aber weder Nudeln noch Kartoffeln. Notgedrungen esse ich ein Baguette.
Es ist erst 19:30 Uhr, ich will jetzt nicht schlafen. Wenn ich nach 4 Stunden Schlaf wieder starte, müsste ich um Mitternacht losfahren, davor gruselt es mir. Ich versuche es mit einem Powernapping: auf einer Wiese in der Sonne versuche ich zu schlafen, in 30 Minuten wird die Sonne hier weg gehen, die Kälte müsste mich wecken. Ich kann aber nicht einschlafen, die Musik ist so laut, zudem bin ich trotz aller Erschöpfung zu aufgedreht. Am Ende döse ich 1 Stunde vor mich hin, bis die Sonne hinter einem Baum verschwindet.
Um 21:00 Uhr fahre ich allein weiter. Obwohl ich nicht schlafen konnte, hat die Rast mir offenbar gutgetan: Erstaunt stelle ich fest, dass ich zumindest im Flachen ganz entspannt über 30 Kmh fahre, also nicht langsamer als vorher. Die kühle Luft der Dämmerung hält mich munter. Die nächsten 55 km vergehen wie im Flug. Um 23:00 Uhr bin ich in Fougeres. Ab hier sind es noch gut 300 km. Was nun? Jetzt 4 Stunden schlafen heißt 4:00 Uhr nachts aufstehen. Darauf habe ich keine Lust. Andererseits sind es immerhin noch 90 km bis Villaines-la-Juhel, auch ganz schön weit mitten in der Nacht. Ich entscheide mich für einen Kompromiss: 10 Minuten Powernapping, dann geht es los in die Nacht. Ich fahre komplett allein, davor haben mich alle gewarnt, da man leichter einschläft. Zwar überhole ich einige Fahrer, die sind mir aber deutlich zu langsam. Im Gegensatz zur letzten Nacht fahre ich jetzt lange Strecken komplett allein. Zum Glück ist fast Vollmond, die Sicht ist gut. Heute freut es mich, wenn ich in der Ferne ein rotes Rücklicht auftauchen sehe. Geschmückte Fahrräder am Straßenrand sind auch jedes Mal eine willkommene Aufmunterung:
Gegen 3:00 Uhr wird es eisig kalt, nur 4 °C. Im Gegensatz zur letzten Nacht friere ich heute aber fürchterlich. Zusätzlich zu den langen Goretex-Armlingen und -Beinlingen habe ich längst meine Regensachen übergezogen. Der Verzicht auf lange Handschuhe erweist sich als Fehler. Ich bin jetzt total müde und schlafe ständig auf dem Fahrrad ein. Offenbar geht es mir jetzt so wie Manuel gestern. Ich habe Panik, in den Straßengraben zu fahren. Vor 1 Stunde bin ich noch an einem gasbetriebenen Heizpilz vorbei gekommen mit einem Schild „Randonneurs welcome“. Hatte ein hilfsbereiter Anwohner rausgestellt. Aktuell gibt es aber gar keine Dörfer. Es ist viel zu kalt, um am Straßenrand zu schlafen, ich muss unbedingt die 20 km bis zur nächsten Kontrolle schaffen. Irgendwann schrecke ich hoch und stehe am Straßenrand. Ich weiß nicht genau, warum ich hier stehe und fahre weiter. Nach 5 Minuten kommen mir mehrere Radfahrer entgegen. Warum fahren die alle in die falsche Richtung? Und warum gibt mein Navi ihnen recht? So ein Mist, ich bin zurückgefahren. Die anderen sind zwar im Schleichmodus und rein körperlich könnte ich viel schneller fahren, aber der Kopf spielt nicht mehr mit. Um niemanden über den Haufen zu fahren, folge ich ihnen in 50 m Entfernung. Ich versuche mich mit Pfeiffen, Ohrfeigen und Gymnastik wach zu halten. Falls meine Vorausfahrer das mitgekriegt haben, halten sie mich vermutlich für verrückt.
Kurz nach 4:00 Uhr tauchen die Lichter von Villaines am Straßenrand auf. Da ich nicht weiß, ob die Schlafplätze dort alle voll sind, gebe ich Vollgas, um vor der Gruppe an die Kontrolle zu kommen. Den ersten Teller Kartoffelbrei habe ich leer, als die anderen eintreffen. Schlafplätze sind ein paar Hundert Meter weiter weg, Wegbeschreibung nur auf Französisch. Das überfordert mich im Moment intellektuell, ich beschließe gleich an der Verpflegungsstelle zu schlafen. Es ist ziemlich kalt in der Halle, deshalb stelle mir die Uhr schon auf 5:30 Uhr und schlafe unter einem der Esstische auf dem kalten Boden ein.
Nach 45 Minuten Schlaf klingelt der Wecker, ich bin durchgefroren und schrecke hoch. Direkt über mir am Tisch sitzt jemand im deutschen ARA-Trikot: Gerhard. Nach seinen 3 Stunden Schlaf letzte Nacht war er gestern tagsüber und heute Nacht offenbar deutlich schneller unterwegs und hat mich wieder eingeholt. Was für eine Freude, einen Begleiter für die letzten 205 km könnte ich gut gebrauchen. Er ist gerade eingetroffen und wollte wohl eigentlich kurz schlafen, die Chance auf Begleitung ist aber auch für ihn verlockend. 5:50 Uhr starten wir gemeinsam in die allererste Morgendämmerung. Später verleiht die aufgehende Sonne ungeahnte Kräfte, der zwar kurze, aber tiefe Schlaf hat mir wirklich sehr gutgetan. Ich fühle mich wieder fit wie am ersten Tag. Hoffentlich hält das an.
Nachdem wir in den Hügeln zunächst gemeinsam plaudernd langsam gefahren sind, drehen wir im Flachen dann wieder auf. Ich fühle mich inzwischen topfit und gehe den Wind, die Schwächephase der Nacht wird durch das sich langsam nähernde Ziel fortgeblasen. Wir sind zwar nicht mehr ganz so schnell wie am ersten Tag, aber trotzdem eifrig am Überholen. Nur einmal werden wir selbst durch einen Pulk aus circa 15 Fahrern überholt, die bergauf ein höllisches Tempo anschlagen. Die waren aber aus der 80-Gruppe, sind 14 Stunden vor uns gestartet und haben sicherlich viel mehr geschlafen. Außerdem werden wir sie bald wiedersehen ….
Zum Glück haben die Planer der Strecke die letzten 200 km anders geführt als auf dem Hinweg. Die Strecke ist deutlich flacher, zudem gibt es eine zusätzliche Kontrollstelle mit der Möglichkeit zur Rast. Gegen 9:00 Uhr erreichen wir Mortagne-en-Perche. Gerhard hat heute Nacht nicht geschlafen und will wenigstens 15 Minuten auf der Wiese in der Sonne ein Powernapping machen. Ich muss meinen Hintern medizinisch versorgen, nach 1100 km kann ich kaum noch sitzen, die obersten Hautschichten sind trotz Sitzcreme komplett weg. Pflaster und Ibuprofen helfen. Beim Essen setzt sich eine der Betreuerinnen aus Mortagne zu mir. Sie ist Deutschlehrerin an der hiesigen Schule. Mortagne sei die Hauptstadt der französischen Blutwurst, und tatsächlich identifiziere ich auch einige Fleischstücken auf dem Teller als solche. Schmeckt sogar gut. Für die Kleinstadt mit 4500 Einwohnern ist PBP das größte Ereignis alle vier Jahre, 90 Freiwillige wechseln sich in 8 Stunden-Schichten über vier Tage bei der Betreuung der Radfahrer ab, zudem bieten zahlreiche weitere Freiwillige ihre Hilfe an, Vereine haben Stände aufgebaut, überall wird man angefeuert und die Häuser sind geschmückt. Einfach toll!
Gerhard schläft wie tot, ich muss ihn richtig durchschütteln, damit er wieder wach wird:
Dann geht es aber zügig weiter, wir fühlen uns beide gut. Nur 77 km bis zur letzten Kontrolle in Dreux. 30 km vorher werden wir von fünf schnellen Fahrern überholt, es sind die Reste der Gruppe, die vor 2 Stunden schon mal an uns vorbei sind. Offenbar haben Sie eine längere Rast gemacht.
Diesmal bleiben wir dran und gehen auch selbst in Führung, bis die fünf schließlich abreißen lassen. Danach folgen Sie uns 5 km lang in konstant 500 m Entfernung. Schade um den vergebenen Windschatten, wir warten ganz kurz am Straßenrand und danach funktioniert die Zusammenarbeit. Es sind zwei Holländer, zwei Engländer und ein Franzose. Sie haben zweimal nachts länger geschlafen, sind dafür tagsüber natürlich zügig unterwegs. Inzwischen diskutieren wir nicht mehr über eine Zeit unter 60 Stunden, sondern spekulieren schon auf Zeit unter 59 Stunden. Die anderen wollen jetzt auch zügig fertig werden, für sie steht noch eine Zeit unter 70 Stunden in Aussicht.
Wir donnern jetzt im Stile eines Mannschaftszeitfahrens aus Dreux hinaus, trotz Gegenwind pendelt der Tacho um 35 km/h. Bei mir sind Müdigkeit und Erschöpfung völlig weggeblasen. Gerhard winkt am ersten Anstieg ab, wir hatten schon vorher besprochen, dass er keine Tempoexzesse mehr mitgehen wird. Ich bin im Adrenalinrausch, das Ziel ist nah. Jetzt fühle mich fit wie am Start zweieinhalb Tage vorher. Ab dem Ortsschild in Rambouillet sind es noch 3 km, teils mit Kopfsteinpflaster. Egal! Mit Tempo 40 donnere ich den letzten Kilometer auf der leicht ansteigenden Zielgerade hoch.
Es macht eigentlich keinen Sinn, nach 1200 km um die letzte halbe Minute zu sprinten, macht aber irre Spaß. Da alle anderen nur noch schleichen, werde ich als einziger frenetisch angefeuert.
Zieleinlauf in der Bergerie National, ein letztes Mal klatschen, dann ist es auf einmal vorbei. Irgendwie ganz profan. Stempel abholen. Fahrrad abstellen. Anstellen für Medaille und Urkunde. Wer möchte, bekommt noch zwei Beschilderungen (das war vorher angekündigt, da früher die Fahrer die Beschilderung immer als Souvenir geklaut haben). Und dann erst mal futtern.
58 Stunden 19 Minuten. Irre Zeit. 20 Minuten lang hält noch die Euphorie, dann werde ich schlagartig müde. Nach genau 20 Minuten kommt auch Gerhard ins Ziel, das weckt mich noch mal auf. Später sehe ich im Internet, dass Michael es in gut 55 Stunden geschafft hat, Manuel in 64. Alle sind heil angekommen.
Für die 3 km bis ins Hotel brauche ich 30 Minuten, ich verfahre mich ständig und mache mehrere Pausen. Dort auf die Schnelle noch eine Büchse Kartoffelsuppe, dann schlafe ich 14 Stunden durch.
Fazit:
1. PBP ist einfach irre, ich war 58 Stunden wie im Ausnahmezustand. Es hat nur 10 Minuten geregnet, das trug sicherlich zur guten Stimmung bei. Adrenalin und Endorphine haben mich unglaublich lange über den fehlenden Schlaf hinweggerettet. Bei all der Plackerei mag man es kaum glauben, aber es hat einfach Spaß gemacht.
2. Die Begeisterung der Franzosen für den Radsport ist Wahnsinn, auf vielen Anteilen der Strecke fühlt man sich wie bei der Tour de France.
3. Beim RSV Heidelberg bin ich bestenfalls ein durchschnittlicher Fahrer, gewöhnlich fahre ich in der langsamen Gruppe. Trotzdem habe ich PBP in weniger als zwei Drittel der maximalen Zeitvorgabe geschafft und bin vermutlich unter den besten 5 %, zumindest aber unter den besten 10 % gelandet (da ist offiziell kein Rennen ist, gibt es auch keine Rangliste). Ich bin sicher, jeder, der die übliche Sonntagsrunde mit dem RSV mitfahren kann, schafft mit etwas gezielter Vorbereitung auch PBP.
4. Zumindest einmal im Leben muss man das PBP als Radsportler gefahren sein.
5. Wer auf eine schnelle Zeit aus ist, sollte in der 80h-Gruppe am Nachmittag starten. Morgens zu starten wie ich spart zwar eine Nacht, man hat aber kaum schnelle Begleiter und entsprechend keinen Windschatten.
6. Schlaf wird überschätzt😉
Axel Werner