Den Königstuhl rauf und runter
Quelle: Rhein-Neckar-Zeitung | E-Paper
Von Christoph Ziemer Rhein-Neckar-Zeitung | E-Paper
Heidelberg. Ein Auto braucht er nicht. Wozu auch? Gleich zehn Fahrräder stehen in der Wohnung von Nicolai Schroer. Sechs gehören ihm, vier Freundin Nataliia. Die Preisklasse der Renn- und Crossräder und Mountainbikes reicht von 200 bis 5 000 Euro. „Das sind dann aber schon echte Hightech-Geschosse aus Carbon“, grinst der 41-Jährige. „In Heidelberg braucht man auch kein Auto.“ Man tritt Nicolai Schroer sicher nicht zu nahe, wenn man ihn als Radsportverrückten bezeichnet. Bei Wind und Wetter fährt der Softwareexperte der Heidelberger Druckmaschinen täglich die 17 Kilometer von Kirchheim nach Wiesloch und zurück. Bei schönem Sommerwetter hängt der Spezialist für Langstrecken auch gerne noch ein paar Kilometer dran.
Mindestens zehn Stunden pro Woche sitzt der gebürtige Paderborner auf dem Drahtesel. Mehr als 400 Kilometer kommen da schon zusammen. Am liebsten mit hohem Tempo. „Ich liebe die Geschwindigkeit“, verrät der 41-Jährige. In den letzten Jahren hat er die Entwicklung vom Hobbyradler zum Extremsportler vollzogen. Einer der großen Trends in der Radszene ist derzeit das „Everesting„.
8.848 Höhenmeter müssen bewältigt werden. Allerdings am Stück, schlafen ist verboten. Die Athleten wählen einen einzigen Berg, an dem es dann unermüdlich immer wieder rauf- und runtergeht. Immer die gleiche Strecke. Ohne Zeitlimit. Ende Mai hat der promovierte Radler des RSV Heidelberg, der auch schon am Heidelberger Trail Marathon teilge-nommen hat, seine bislang härteste Herausforderung absolviert: 10 000 Höhenmeter am Königstuhl. Ein Blick auf die bloßen Zahlen lässt bereits erahnen, dass es sich dabei nicht um eine Kaffeefahrt gehandelt hat. 312 Kilometer in 19 Stunden hat Nicolai Schroer zurückgelegt, dabei knapp
11 000 Kalorien verbraucht. Bei einer reinen Fahrzeit von 16:30 Stunden und einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 19 km/h. Zwischen dem Max-Plack-Institut und Drei-Eichen ging es wie in einer Endlosschleife immer wieder zwei Kilometer bergauf und bergab.
Was macht so eine Fahrt mit einem Sportler? „Am Anfang ist eigentlich alles ganz normal“, berichtet der Ausdauersportler. „Später wird es dann härter. Du darfst nie daran denken, wie viel dir noch fehlt. Stattdessen setzt du dir immer kleine Ziele.“ Gutes Wetter hilft. Statt Frost und Nebel wie bei seinen bisherigen Everestings herrschten am 29. Mai nahezu perfekte Bedingungen. Um drei Uhr ist der Extremsportler an diesem Tag aufgestanden, hat sich einen Kaffee gemacht und ist um halb fünf in die Pedale getreten. Müdigkeit habe er kaum gespürt: „Es ist ja das erste, was du am Tag machst. Du freust dich einfach darauf. Außerdem schießt dir dabei so viel Adrenalin durch den Körper, das hält wach.“
Bei seiner jüngsten Rekordfahrt ist der 41-Jährige mehrmals an einigen Spaziergängern vorbeigefahren. Diese hätten zwar etwas merkwürdig geschaut, aber nichts gesagt. Anstrengender sei während der ganzen Stunden auf dein Sattel das, was sich im Kopf abspiele: „Es ist zermürbend. Immer die gleiche Strecke, irgendwann kennst du jeden Stein. Man muss sich kleine Motivation-Häppchen setzen.“ Mit voller Trinkflasche ist Schroer losgefahren, als Wendepunkt diente eine Schranke. Beim Passieren nahm er jedes Mal einen Schluck- ein Belohnungssystem als Zeitmarker.
Sechsmal hat Nicolai Schroer nun schon ein „Everesting“ absolviert, zwei davon auf dem Hometrainer. Langweilig werde es auch in den eigenen vier Wänden nicht, sagt er. Nachtfrost und Nebel entfallen, dafür könne man wunderbar Musik hören und kleine Filme schauen. Auch den berüchtigten Alpe d’Huez-Gipfel hat er so schon virtuell bezwungen. Im Laufe der Jahre ist aus dem Software-Experten auch ein echter Rad-Kenner geworden. Seine Reparaturen nimmt der Athlet immer selbst vor, Ersatzteile und sämtliche Utensilien ordert er ausschließlich im Internet. Corona-Kilos sucht man an den Rippen von Nicolai Schroer vergeblich. Die Pandemie hat auch bei ihm für Entschleunigung gesorgt, im Positiven. Er kann sich die Zeit auf dem Rad nun umso besser einteilen. Ein Luxus-Problem aber bleibt: Zu Hause wird es allmählich eng. „Zehn Räder in der Wohnung nehmen doch einiges an Platz weg“, bedauert der Höhenjäger. Doch der Häusermarkt in Heidel-berg sei immer noch so angespannt, dass aus dem erhofften Umzug wohl so schnell nichts werde. Etwas Ablenkung hilft da sicher. „Bikepacking“ heißt der neueste Trend in der Szene: Ein Camping-Urlaub samt Rad. „Du nimmst dir dein Zelt im Rucksack mit und hast alles dabei, was du brauchst“, erklärt Schroer. Und klingt dabei so, als ob es schon bald losgehen könnte.